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Palais Epstein


Das vor der Wiener Stadtmauer liegende Glacis diente in Kriegszeiten als freies Schussfeld, in friedlicheren Perioden aber als Naherholungsgebiet der Wiener. Die Gegend um das spätere Palais Epstein hieß damals bell' aria, ein Name, der sich bis heute erhalten hat und auf die damalige gute Luft hinwies. Das Palais liegt unmittelbar zwischen dem Parlament und dem Naturhistorischen Museum. Hier sollte nach der Schleifung der Stadtmauern und dem Bau der Ringstraße eigentlich das Adelige Casino entstehen, doch war der Preis für diesen prominenten Bauplatz zu hoch. Letzten Endes griff der, aus Prag zugewanderte, Bankier Gustav Ritter von Epstein zu. Er war der Sohn des reichen jüdischen Textilgroßhändlers Lazar Epstein und verfügte über ein ererbtes Vermögen, das der heutigen Kaufkraft von etwa 100 Millionen Euro entsprach. Theophil Hansen schuf in den Jahren 1870 bis 1873 für ihn ein Palais im Stil der italienischen Renaissance, das sich von seinen sonstigen Bauten deutlich unterscheidet. Ausführender Baumeister war Otto Wagner. Vor allem die kubische Form und der Verzicht auf eine Gliederung durch Risalite sind ungewöhnlich. 1871 zog sich der kränkelnde Baron aus der Geschäftsführung seines Bankhauses zurück und widmete sich der Einrichtung seines neuen Hauses und seiner Kunstsammlung. Zwei Jahre später, nach dem großen Börsenkrach von 1873 war die Bank nahezu pleite und Epstein ruiniert. Sein Hauptkassier, der für das Desaster die Verantwortung trug, stürzte sich vom Dach des Palais in den Tod. Epstein schloss die Bank, verkaufte seine bedeutende Gemäldesammlung und zog in eine Mietwohnung, wo er bereits 1877 starb. 1883 musste das Palais verkauft werden. Es wurde Firmensitz der Englischen Gasgesellschaft Imperial Continental Gas Association. 1902 gelangte es in Staatsbesitz, wurde im Inneren als Amtsgebäude adaptiert und diente vorerst als Verwaltungsgerichtshof. Von 1922 bis 1938 war es Sitz des Wiener Stadtschulrates. Danach hatte das Reichsbauamt hier seine Büros. Zwischen 1945 und 1955 hatte das Gebäude seine dunkelste Zeit. Es war der gefürchtete Sitz der Zentralkommandantur der russischen Besatzungsmacht. Von hier aus musste so mancher Österreicher die ungewollte Reise nach Sibirien antreten. Danach wurde es wieder dem Wiener Stadtschulrat übergeben. Als dieser 2001 auszog, begann ein Streit um die weitere Verwendung des Palais. Mittlerweile hat man sich geeinigt. Seit 2006 sind hier zusätzliche Büros des Parlaments untergebracht, das übrigens ebenfalls von Theophil Hansen errichtet wurde. Bei der soeben abgeschlossenen Generalsanierung wurden einige interessante Entdeckungen gemacht. So fand man in der Mauer des Erdgeschosses eine Mechanik, mit der schwere Stahlplatten vor die Fenster gehoben werden konnten - als Einbruchsicherung für die Epstein'sche Bank. In einigen Erdgeschoßräumen wird eine Dauerausstellung über die Familie Epstein und das jüdische Großbürgertum Wiens gezeigt.

Das an drei Seiten freistehende Gebäude ist dreistöckig und besteht außer dem Erdgeschoß aus zwei Hauptgeschossen und einem Attikageschoß. Letzteres ist besonders reich mit Terrakottaschmuck versehen. So stehen zwischen den Fenstern des obersten Stockwerkes zahlreiche Karyatiden, über denen Löwenköpfe das Kranzgesims tragen. Im Gegensatz zu echten Renaissancepalästen sind die Figuren – wie im Historismus häufig – industriell vorgefertigt. Sie stammen aus dem Verkaufsprogramm der Wienerberger Ziegelfabrik. Die starke Konzentration der Schmuckelemente auf das Dachgeschoß wurde später von Otto Wagner in verändertert Form aufgegriffen. Die der Ringstraße zugewendete Hauptfront, wurde durch die hübsche Portalzone hervorgehoben, doch kommt diese heute kaum zur Geltung, da man ihr eine Straßenbahnhaltestelle unmittelbar vorgesetzt hat. Vier große, von Vinzenz Pilz geschaffene Karyatiden tragen über dem Tor und den beiden anschließenden Fenstern einen Balkon. Durch die Toreinfahrt gelangt man in den glasgedeckten Innenhof, in dem sich ein ebenfalls von Pilz gestalteter Hygieia-Brunnen befindet. Die griechische Göttin der Gesundheit ist mit der Asklepios-Schlange dargestellt. Die Hoftüren sind mit Ätzglasverzierungen versehen. An der Rückseite des Hofes lagen ursprünglich Pferdeställe und Wagenremisen. Im Erdgeschoß befanden sich links vom Eingang Geschäftslokale, "Gewölbe" genannt. Rechts waren die Kassenhalle des Bankhauses sowie dessen Büros untergebracht.

Das Haupttreppenhaus fällt durch seine Mehrfarbigkeit auf. Die zweiarmige Feststiege ist mit großen kannelierten Säulen und Wandpilastern aus rotem Veroneser Marmor versehen. Sie führt nicht, wie sonst üblich bis in die Beletage sondern bis in den zweiten Stock, was darauf hindeutet, dass beide Stockwerke für eine Nutzung durch Familienmitglieder vorgesehen waren. Die Kapitelle sind weiß, die Basen und Postamente schwarz. Die Wandflächen sind mit grau und rot marmoriertem Kunstmarmor verkleidet. Die Treppe und ihre Balustraden sind weißgrau. Ein einfacheres Stiegenhaus liegt im Westtrakt des Gebäudes. Die qualitätvolle Ausstattung der Beletage mit Kassettendecken und Stuckarbeiten ist zum Großteil erhalten. Vor allem der große und der kleine Festsaal sind vollkommen mit zum Teil reich skulptiertem Kunstmarmor ausgekleidet. Die Gemälde in den Feldern der Decken wurden 1871/72 von Christian Griepenkerl nach Entwürfen aus dem Nachlass von Carl Rahl und Kartons von Eduard Bitterlich geschaffen. Sie beziehen sich auf Themen aus der griechischen Götterwelt. So stellt ein Deckengemälde im Tanzsaal die Geburt der Venus dar. Um dieses sind zehn weitere Gemälde gruppiert. Die Bacchantinnen Figuren stammen von Franz Melnitzky. Die Ausstattung des Fest- oder Tanzsaales war ursprünglich von Theophil Hansen für das Schloss des Großherzogs von Oldenburg geplant, doch war sie diesem zu teuer. Die Deckendekoration des Spielzimmers ist eine detailgetreue Wiedergabe jener der Kirche Santa Maria dei Miracoli in Venedig. Auf der rechten Seite, hinter dem Arbeitszimmer und der prachtvollen Bibliothek Epsteins, wohnte der älteste Sohn Friedrich. Sein Raum war halb so groß wie der des Vaters, aber doppelt so groß wie der des Hauslehrers daneben. Der Wintergarten ist mit der Kopie des Frieses „Triumphzug Alexanders des Großen in Babylon“ von Bertel Thorvaldsen geschmückt. Im Boudoir der Dame des Hauses, das an der Ecke Ring/Bellariastraße lag, befinden sich ebenfalls Thorvaldsen-Abgüsse. Der Großteil der Möblierung ist durch die häufigen Umwidmungen des Hauses verloren gegangen. Ein schöner Historismus-Kachelofen hat sich im Speisezimmer erhalten.

Lage: Dr. Karl Renner Ring 1

Ort/Adresse: 1010 Wien

Besichtigung: Die Dauerausstellung kann von Montag bis Freitag zwischen 10.00 und 17.00 sowie am Samstag von 10.00 bis 13.00 besichtigt werden.

Homepage: www.palaisepstein.at


Weitere Literatur:


04.11.2005