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Böhmische Hofkanzlei


1526 wählten die böhmischen Stände Erzherzog Ferdinand I von Habsburg zum neuen böhmischen König, wodurch Böhmen Teil des Habsburgerreiches wurde. Die böhmischen Stände verlangten aber eine eigene Behörde, die für die inneren Angelegenheiten des Landes zuständig sein sollte. Diese Behörde wurde 1527 gegründet und als Böhmische Hofkanzlei bezeichnet. Ihr Sitz befand sich zunächst in der Prager Burg am Hradschin. Im Zuge eines Aufstandes der protestantischen Stände gegen Kaiser Matthias fand 1618 in den Räumen der Kanzlei der „zweite Prager Fenstersturz“ statt, bei dem die beiden königlichen Statthalter Jaroslav Graf Martinitz und Wilhelm Slatava gemeinsam mit ihrem Schreiber Philipp Fabricius aus dem Fenster geworfen wurden. Überraschenderweise kamen alle drei mit dem Leben davon, da ein Reisighaufen den Sturz abgebremst hatte. Dennoch wurde diese Tat von den Habsburgern als zumindest unfreundlicher Akt bezeichnet, der als Auslöser für den 30-jährigen Krieg gilt. 1620 fand die Schlacht am Weißen Berg statt, die mit einer schweren Niederlage des protestantischen Heeres bzw. des protestantischen Adels endete. Kaiser Ferdinand II konnte seine Ansprüche auf Böhmen durchsetzen. Die am Aufstand beteiligten böhmischen Adeligen wurden enteignet sofern sie nicht als Hochverräter hingerichtet wurden. Die Böhmische Hofkanzlei wurde nach Wien verlegt und nur dem böhmischen König, also den Habsburgern unterstellt. Dies geschah aus Sicherheitsüberlegungen, aber auch um Prag bzw. die böhmischen Stände für ihre Haltung dem Kaiser gegenüber zu bestrafen.

Die notwendigsten Räume für die Aufgaben der Kanzlei wurden vorerst in zwei Häusern an der Stelle des heutigen großen Barockbaues geschaffen. Dies wird im Jahr 1700 erstmals berichtet. Sie waren jedoch viel zu klein, so dass schon 1708 ein Haus des Abtes von Wiener Neustadt zur Vergrößerung des geplanten Bauplatzes erworben wurde. Der böhmische Hofkanzler Johann Wenzel Graf Wratislav von Mitrowitz gab 1709 den Bauauftrag für das heutige Palais. Böhmen war das wichtigste und wirtschaftlich am besten entwickelte Kronland. Dies sollte natürlich auch in seiner Wiener Vertretung zum Ausdruck kommen. Als Architekt wurde daher Johann Bernhard Fischer von Erlach engagiert. Er wählte als Baustil den damals in Wien noch weitgehend unbekannten palladianischen Klassizismus, den er mit Motiven aus dem französischen und italienischen Hochbarock anreicherte. Die Steinmetzmeister Giovanni Battista Passerini und Johann Georg Haresleben schufen den Baudekor an den Fassaden. Unter dem Hofkanzler Leopold Anton Joseph Graf Schlick wurden die Arbeiten 1714 beendet. Der damals nur neunachsige Bau erwies sich aber bald wieder als zu klein, vor allem als nach der Staatsreform von 1749 auch Behörden aus den österreichischen Ländern hierher verlegt wurden. Die Aufgaben der Böhmischen Hofkanzlei wurden von zwei neuen Ämtern übernommen, dem „Dirctorium in publicis et cameralibus“ und der Obersten Justizstelle. Von 1750 bis 1754 erweiterte der Architekt Matthias Gerl den Bau Fischers in Richtung Fütterergasse um ein ebenso großes Gebäude für die Österreichische Hofkanzlei. Die Fassaden wurden dem Altbau angeglichen. An der Jordangasse entstand ein einachsiger Zubau. Auf die Reformen Kaiser Josefs II ging 1782 die Auflösung der von Kaiserin Maria Theresia gestifteten dreistöckigen Theresienkapelle zurück. Sie wurde anschließend durch den Einbau von Kanzleien zerstört.

Bei der Beschießung Wiens durch die Franzosen 1809 wurde das Gebäude schwer beschädigt Im Zuge der noch im selben Jahr durchgeführten Restaurierung wurden die Fassaden vereinfacht bzw. im Detail etwas verändert. Nach neuerlichen Umorganisationen wurde die Böhmische Hofkanzlei 1848 endgültig aufgelöst. Ihre Kompetenzen wurden dem k. k. Ministerium des Inneren übertragen. Dieses bzw. das spätere österreichische Innenministerium nutzte das Gebäude bis 1923. In dieser Zeit residierten hier als Innenminister u. a. Franz Xaver Freiherr von Pillersdorf, Anton Ritter von Schmerling und Eduard Graf Taaffe. 1896 erneuerte Emil von Förster die Repräsentationsräume im Inneren. Nach dem Ersten Weltkrieg war hier auch das Landwirtschaftsministerium untergebracht, das damals u. a. vom späteren Bundeskanzler Engelbert Dollfuß geleitet wurde. Der 1945 durch Fliegerbomben an der Nordostecke schwer beschädigte Bau wurde bis 1951 durch den Architekten Erich Boltenstern restauriert, wobei man die Arbeiten nützte, um entlang der Wipplinger Straße, nicht sehr sensibel, eine Fußgängerpassage einzubauen, in der sich einige elegante Geschäfte angesiedelt haben. Die Haupteingänge wurden damals von der Wipplinger Straße zum Judenplatz verlegt. Bei der letzten Fassadenrestaurierung in den Jahren 2009/10 kümmerte man sich besonders um die zahlreichen Steinfiguren und Wappen sowie den übrigen Fassadenschmuck. Das Gebäude der ehemaligen Böhmischen Hofkanzlei dient bis heute Verwaltungszwecken. Es ist seit 1936 Sitz des Verwaltungsgerichtshofes. Der Verfassungsgerichtshof war von 1946 bis 2012 hier beheimatet. Dann übersiedelte er in ein Gebäude an der Freyung. Streng genommen ist der Bau der Böhmischen Hofkanzlei kein Palais, da er nie Wohnzwecken einer adeligen Familie diente. Lediglich für den Chef der Behörde wurde eine Dienstwohnung eingerichtet, die aber auch nur zeitweise benutzt wurde. Dennoch wird die Böhmische Hofkanzlei in der Literatur häufig als eines der schönsten Wiener Barockpalais bezeichnet.

Der Bauplatz der Hofkanzlei liegt inmitten des Ghettos des mittelalterlichen Wiens, an das noch die Adresse Judenplatz erinnert. Hier standen die Synagoge, die Schule und das Bad. Diese sowie die umliegenden Wohnhäuser wurden spätestens beim großen Pogrom von 1420 zerstört. Der Komplex der Böhmischen Hofkanzlei nimmt nach den Zubauten Gerls den ganzen Gebäudeblock zwischen Wipplinger Straße, Jordangasse, Judenplatz und Fütterergasse ein. Seine Schauseite liegt nach wie vor in der Wipplinger Straße, die Hauptfassade mit den Eingängen aber am breiten Judenplatz, wo sie natürlich besser zur Geltung kommt als in der engen Wipplinger Straße. In dieser hat sich aber das ursprüngliche Palais Fischers am besten erhalten, da seine Fassaden an den übrigen Seiten durch die späteren Anbauten Gerls verschwunden sind oder doch zumindest verändert wurden. Fischers Bau ist in der dem Hohen Markt benachbarten Fassadenhälfte erhalten. Das hochbarocke Palais zeigt hier zwei genutete Sockelgeschoße, über denen die an ihren großen Fenstern erkennbare Beletage liegt. Das darüber befindliche Stockwerk mit seinen nahezu quadratischen kleinen Fenstern ist wesentlich niedriger. Die zahlreichen Attikafiguren, die Fischers Dreiecksgiebel umgaben, sind heute nur mehr zum Teil erhalten. Gerl hatte an den Altbau praktisch eine 1:1 Kopie angefügt, so dass man heute schon sehr genau schauen muss, um das Original von der Kopie zu unterscheiden. Dies gilt aber nur für das Äußere. Das Innere ist anders gestaltet. Die Böhmische Hofkanzlei ist derzeit das Wiener Palais mit den meisten Atlanten bzw. Hermen an der Fassade. Allein an der zwanzigachsigen Front zur Wipplingerstraße findet man acht. Am Judenplatz kommen noch vier dazu. Die Wipplinger-Fassade ist mit ihren beiden gleichwertigen Risaliten wesentlich besser gegliedert, als die etwas einfachere zweiundzwanzigachsige Judenplatz-Front. Diese weist zwar ebenfalls zwei mit Dreiecksgiebeln ausgestattete Risalite und sogar einen mittleren, aber giebellosen Attikarisalit auf, doch fehlen ihr die korinthischen Riesenpilaster sowie die zwischen den Fenstern der Beletage auf hohen Postamenten stehenden weiblichen Steinfiguren.

Prächtig sind die korbbogigen Portale mit ihren qualitätvollen Lünettengittern. Diese sind meist mit dem vergoldeten kaiserlichen Doppeladler geschmückt. Über dem Tor, das bis vor wenigen Jahren vom Judenplatz in den Verfassungsgerichtshof führte, ist eine große Wappenskulptur angebracht, die auf den einstigen Zweck des Palais hinweist. Das große Wappen des Königreiches Böhmen unter der dominanten böhmischen Königskrone wird rechts vom mährischen und links vom schlesischen Wappen flankiert. Alle drei Wappen sind frisch vergoldet und von reichem Rokokodekor eingefasst. Der Schmuck des östlichen Risalits weist auf den erweiterten gesamtstaatlichen Aufgabenbereich des Hauses hin. Über dem Eingang zum Verwaltungsgerichtshof erkennt man zwischen dem innerösterreichischen und dem oberösterreichischen Wappen jenes des Erzherzogtums Österreich. Das einzige, was außer dem erst 1945 aufgedeckten Deckengemälde von der zerstörten Theresienkapelle geblieben ist, ist ihr Eingang in der Jordangasse. Er ist mit einem Relief geschmückt, das die Himmelfahrt Mariens darstellt. Der Dreiecksgiebel im siebenachsigen Mittelrisalit der Jordangassenfront zeigt einen monumentalen Reichsadler mit dem Wappenschild Franz Stephans von Lothringen. Als Pendant ist der Wappenschild der Kaiserin Maria-Theresia im Reichsadler des Mittelgiebels an der Fütterergasse zu erkennen. Die Gebäudemasse des riesigen Palais wird durch zwei größere Höfe aufgelockert. Der querrechteckige Ministerhof ist der Innenhof des Fischer-Baues, während der längsrechteckige Kanzleihof im Gerl-Bau liegt. Wie bei Wiener Palais üblich waren im Erdgeschoß der Höfe Ställe (für 38 Pferde) sowie Räume für die Bediensteten eingerichtet. Beide Gebäude verfügen über eigene Prunktreppen. Bemerkenswert ist die von Fischer geplante Löwenstiege, die nach den beiden Steinlöwen benannt ist, die sie bewachen. Die barocke zweiarmige Treppe wurde später historistisch verändert, wobei das von Louis Dorigny gemalte Deckengemälde verloren ging. 1848 wurde die von Hans Gasser geschaffene überlebensgroße Steinfigur der Austria angebracht. Die sog. Puttenstiege ist die Haupttreppe des Gerl-Palais. Die monumentale Vierpfeilertreppe hat ihren Namen nach den Barockengerln, die hier als Leuchterträger eingesetzt sind. Die barocken Repräsentationsräume wie der Marmorsaal, das Indianerzimmer und der Gelbe Salon wurden 1895/96 durch den Architekten Emil von Förster späthistoristisch verändert. Die unspektakulären Verhandlungssäle gehen auf die Restaurierungsarbeiten Boltensterns um 1950 zurück.

Ort/Adresse: 1010 Wien, Wipplinger Straße 7/Judenplatz 11

Besichtigung: meist nur von außen möglich


Weitere Literatur:


21.05.2017